Ein neuer Ort kann auch zur Heimat werden
von Kai Zielke
04.12.2024
Vor 75 Jahren wurde die Oberpleiser Not-Kirche vom Typ D „Flüchtlingsdiaspora Gemeindezentrum“ des Bauhausarchitekten Prof. Otto Bartning im Pleiser Ländchen gebaut, um einheimischen und heimatvertriebenen evangelischen Christen eine neue Heimat zu geben. Die erste eigene Kirche in der Diaspora.
Die Geschichte des Protestantismus war schon immer auch mit Flucht- und Vertreibungsgeschichten verknüpft. In ihrem Vortrag anlässlich des Festjahres zum Kirchenjubiläum, führte die Gießener Kirchenhistorikerin Prof. Dr. Athina Lexutt in Schlaglichtern durch diesen spannenden Teil der Kirchengeschichte, der eng mit der Entwicklung der Menschenrechte und der Religionsfreiheit verbunden ist.
Von den Waldensern führte der Vortrag über die Hutterer, zur Täuferbewegung und den Hugenotten weiter zu den Protestanten aus dem Salzburger Land und schließlich zur Flucht der mehrheitlich evangelischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten.
Freie Religionsausübung, für uns heute ein verbrieftes Grundrecht, war in der Geschichte immer nur solange möglich, wie die jeweiligen Herrschaftsverhältnisse dies zuließen. Änderten sich diese, war Flucht oft nur die einzige Möglichkeit, seinen Glauben weiter „leben“ zu können.
Aber auch die kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse von Flucht, Migration und Integration in die neue Heimat, waren Teil der Betrachtungen. Nicht zuletzt die zehntausenden Hugenotten haben mit ihren mitgeführten Kenntnissen dafür gesorgt, dass das vom 30jährigen Krieg arg ausgeblutete Brandenburg zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte fand. Spannend und erschreckend waren die immer wieder auch durchscheinenden Parallelen zu gegenwärtigen Flüchtlingskrisen weltweit.
Nach dem Vortrag, bei Getränken und Knabbereinen in der Oberpleiser Kirche, war der Begriff Heimat im allgemeinen und spirituellen Sinne Thema. Nicht zuletzt auch, weil viele Familiengeschichten unserer Gemeindeglieder vom unmittelbaren Grund, der zum Bau der Kirche führte, selbst betroffen sind. Auch das kam zur Sprache.
Was einen theologisch sinnvoll geprägten Heimatbegriff ausmacht, führte Frau Prof. Dr. Lexutt mit einem Zitat aus der EKD-Denkschrift zum Thema Heimatvertriebene von 1965 aus:
„Ohne Zweifel gehört die irdische Heimat zu den Gaben, mit denen Gott die Menschen ihr Leben in einer möglichst guten Ordnung der Welt führen lassen will. Die Heimat ist also zu den Gütern zu rechnen, die der Schöpfer dem Geschöpf in das Leben mitgibt und um die wir nach der Auslegung Martin Luthers mit beten, wenn wir in der vierten Bitte des Vaterunsers sprechen: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Menschenwürdiges Leben ist ohne die Inhalte und Beziehungen, die Werte und Verpflichtungen, die man üblicherweise mit dem freilich nicht leicht zu umschreibenden Begriff Heimat verbindet, schwerlich vorstellbar. Doch ist schon aus Vernunft und Lebenserfahrung einer Übersteigerung zu widerraten, die die Heimat in den Rang eines höchsten Lebenswertes erhebt und ihr einen pseudoreligiösen Charakter verleiht. Die Heimat gehört zu den Elementen des Lebens, die in Verantwortung zu gebrauchen und zu gestalten sind. Diese Verantwortung schließt auch die Möglichkeit einer Entscheidung gegen die Heimat und einer Lösung von ihr nicht aus. Eine Überhöhung des Heimatverständnisses entspricht in der mobilen Gesellschaft von heute weithin nicht mehr der Lebenswirklichkeit; erst recht bedeutet sie eine Umbarmherzigkeit gegenüber den Menschen, die fern von ihrer Heimat leben müssen, ohne Vertriebene im engeren Sinne zu sein. Ein falsches Heimatverständnis kann schließlich Vertriebene und Flüchtlinge daran hindern, nach dem Verlust der Heimat sich ohne Resignation den neuen Aufgaben ihres Lebens zuzuwenden, und sich damit auch ihnen gegenüber als unbarmherzig erweisen. Die Heimat unterscheidet sich als Gabe Gottes nicht von den anderen Gütern des irdischen Lebens. Die Bitte um sie rechnet mit der Freiheit Gottes, daß er sie gibt, wann und in welcher Gestalt er will. Gott ist nicht an das einmal gewährte Geschenk der Heimat gebunden. Im Urteil des Glaubens, das vom Geschichtshandeln Gottes weiß, hat Gott auch da seine Hand im Spiel, wo für das menschliche Urteil der Raub der Heimat mit Unrechtstaten der Menschen verbunden war. Er kann aus der alten Heimat herausführen und über die Heimatlosigkeit wieder eine neue Heimat schenken, die das irdische Leben sichert. Alles christliche Reden von Heimat wäre unzulänglich und irreführend, wenn es nicht für die Erkenntnis offen und durchscheinend bliebe, daß dem Menschen in Jesus Christus das Vaterhaus Gottes verheißen und angeboten ist, in dem er für sein Leben Geborgenheit findet, die ihm keine irdische Heimat geben kann. „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen“ (Matth. 6, 33) — dieses Wort der Bergpredigt sorgt auch hier für eine rechte Rangordnung und ordnet die irdische Heimat dem Heilshandeln Gottes unter. Der Christ hat die Freiheit, aber auch die Aufgabe, eine letzte Distanz sowohl zur Heimat wie zur Heimatlosigkeit zu gewinnen. Diese Fremdlingschaft in der Welt erlaubt den freien Gebrauch ihrer Güter und schützt vor einer unerlaubten Überschätzung. Die theologischen Elemente des Heimatbegriffes können nach allem nicht dazu dienen, ein unabdingbares Recht des Menschen auf seine, auf die Heimat zu begründen. Auch die mit dem Heimatrecht verbundenen politischen Ansprüche können sich auf theologische Begründungen zum Heimatverständnis nicht berufen. Der Glaube an Gott begründet ein solches Verhältnis zur Heimat, daß der Christ zum gehorsamen Gebrauch ihrer Güter ebenso in der Lage ist, wie er zum Verzicht auf sie bereit sein muß. Zu welcher Entscheidung es im konkreten Falle kommt, läßt sich aus dem Heimatverständnis als solchem und aus einem postulierten Recht auf Heimat nicht ableiten, sondern gehört in einen umfassenden Zusammenhang menschlicher und politischer Verantwortung.“ (Aus: Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine evangelische Denkschrift, Hannover 51965, S. 33f.)
Heimat ist ein schillernder Begriff, der bedacht und reflektiert sein will, damit er nicht von rechter oder anderer Ideologie okkupiert und Missbraucht wird.
Die Anwesenden waren sich einig, dass das Gemeindeleben, die Gemeinschaft und das gemeinsame Feiern des Gottesdienstes in seinen wiederkehrenden Elementen, Heimat schenkt und untereinander verbindet.
In Oberpleis schuf die gemeinsam erbaute Kirche segensreich neue Heimat für viele Menschen und bietet sie auch heute noch! Dafür waren die Anwesenden froh und dankbar.
Nach angeregtem Austausch dankten die Anwesenden Frau Prof. Dr. Lexutt für ihren informativen und zugleich unterhalsamen Vortrag und beschlossen den Abend in der Kirche mit Gebet und Segen zur Nacht.
Text: Pfarrer Klemp-Kindermann / Kai Zielke – Fotos: Kai Zielke